
Stell dir vor: Ein Sommercamp in Oklahoma, 1954. Elfjährige Jungs prügeln sich wie Tiere. Hütten werden verwüstet, Flaggen verbrannt, Taschenmesser gestohlen. Und mittendrin steht ein Mann im Hausmeister-Outfit, der begeistert alles in sein Notizbuch kritzelt. Willkommen beim Robbers Cave Experiment – einem der berühmtesten und verstörendsten Experimente der Sozialpsychologie.
Wenn du Psychologie studiert hast, kennst du die offizielle Geschichte. Zwei Gruppen von Jungs, getrennt voneinander, entwickeln eine starke Gruppenidentität. Dann werden sie in einen Wettbewerb geschickt, und innerhalb von Tagen hassen sie sich gegenseitig. Schließlich lösen "übergeordnete Ziele" den Konflikt, und alle werden wieder Freunde. Eine saubere wissenschaftliche Parabel über Gruppenkonflikte und deren Lösung.
Aber diese Geschichte ist nur die halbe Wahrheit.
Das Robbers Cave Experiment wurde 1954 vom türkisch-amerikanischen Sozialpsychologen Muzafer Sherif durchgeführt. Sein Ziel: Beweisen, dass Gruppenkonflikte nicht aus angeborenem Hass entstehen, sondern aus Konkurrenz um knappe Ressourcen. Diese Theorie – die Realistic Conflict Theory – sollte erklären, warum Menschen sich gegenseitig bekämpfen, von Schulhofstreitereien bis zu Weltkriegen.
Sherif rekrutierte 22 elfjährige Jungs aus stabilen Mittelschichtsfamilien in Oklahoma. Die Eltern dachten, ihre Söhne würden drei Wochen lang ein normales Sommercamp besuchen. Sie hatten keine Ahnung, dass ihre Kinder Teil eines psychologischen Experiments werden würden.
Das Experiment lief in drei Phasen ab:
Phase 1: Gruppenbildung. Die Jungs wurden in zwei Gruppen aufgeteilt – die "Rattlers" und die "Eagles" – die zunächst nichts voneinander wussten. Durch gemeinsame Aktivitäten entwickelten sie schnell eine starke Gruppenidentität.
Phase 2: Konflikt. Die Forscher organisierten ein einwöchiges Turnier zwischen den Gruppen. Der Preis: Ein Satz Taschenmesser. Diese Zero-Sum-Situation – wo nur eine Gruppe gewinnen konnte – führte zu eskalierender Feindseligkeit, Überfällen und schließlich körperlicher Gewalt.
Phase 3: Integration. Durch "übergeordnete Ziele" – Probleme, die beide Gruppen nur gemeinsam lösen konnten – wurde der Konflikt aufgelöst und Freundschaften entstanden über Gruppengrenzen hinweg.
Diese Geschichte wurde zur Grundlage für Jahrzehnte der Konfliktforschung und steht bis heute in jedem Psychologie-Lehrbuch.
Hier wird es dunkel. Denn die Forscher waren keine neutralen Beobachter. Sie waren aktive Manipulatoren.
Die australische Psychologin Gina Perry grub jahrelang in Archiven und deckte auf, was wirklich passiert ist. Die Flaggenverbrennung? Die Forscher stellten den Jungs die Streichhölzer zur Verfügung. Die nächtlichen Überfälle? Das Team wusste davon und griff nicht ein – sie dokumentierten es sogar mit Blitzlicht-Fotografie. Die Wettkampfergebnisse? Manipuliert. O.J. Harvey, Sherifs Top-Assistent, gab später offen zu: "We cheated a bit."
Die Forscher ließen absichtlich keine Interventionen zu, wenn Jungs gemobbt wurden oder Situationen eskalierten. Sie erschufen ein moralisches Vakuum – eine Welt ohne die üblichen sozialen Regeln. Und in diesem Vakuum beobachteten sie, wie Kinder zu "Monstern" wurden.
Aber der eigentliche Schock kommt jetzt.
Ein Jahr vor Robbers Cave führte Sherif ein ähnliches Experiment in Middle Grove, New York durch. Dieses Experiment ist kaum bekannt – und das hat einen Grund.
Es ist spektakulär gescheitert.
Der entscheidende Unterschied: In Middle Grove ließ Sherif die 24 Jungs zunächst zusammenkommen und Freundschaften schließen. Erst danach teilte er sie in zwei Gruppen – "Panthers" und "Pythons" – und trennte absichtlich beste Freunde voneinander.
Die Theorie war: Die Gruppenidentität würde stärker sein als individuelle Freundschaften.
Aber die Jungs spielten nicht mit. Sie durchschauten die Manipulation. Sie bemerkten die Mikrofone an der Decke. Sie erkannten die inszenierten Provokationen. Und anstatt sich gegenseitig zu hassen, richteten sie ihre Feindseligkeit gegen die wahren Schuldigen: die Forscher.
Ein Junge namens Laurence stellte die entscheidende Frage, die das ganze Experiment zum Einsturz brachte: "Vielleicht wolltet ihr nur sehen, wie unsere Reaktionen wären."
Das Spiel war vorbei. Die Jungen hatten gewonnen.
Sherif war am Boden zerstört. Betrunken und verzweifelt beschuldigte er seinen Kollegen Marvin Sussman der Sabotage, nannte ihn einen "gierigen Geier" und wollte zuschlagen. Nur das Eingreifen eines anderen Assistenten verhinderte die körperliche Auseinandersetzung.
Middle Grove wurde begraben. Kaum publiziert. In Sherifs späteren Werken nur als Fußnote erwähnt – "verschiedene Schwierigkeiten und ungünstige Bedingungen."
Um Sherifs Verzweiflung zu verstehen, muss man seine Geschichte kennen. Geboren 1906 im zerfallenden Osmanischen Reich, wuchs er inmitten brutaler ethnischer Gewalt auf. Türken gegen Griechen, Türken gegen Armenier – Zehntausende starben. Diese Traumata prägten seine Lebensaufgabe: verstehen, warum Menschen sich gegenseitig hassen.
Seine Realistic Conflict Theory war nicht nur akademische Theorie. Sie war sein Versuch, die irrationale Gewalt seiner Kindheit in ein rationales, lösbares Modell zu zwingen. Wenn Konflikte aus Konkurrenz entstehen, nicht aus angeborenem Hass, dann sind sie verhinderbar.
Dazu kam enormer beruflicher Druck. Die Rockefeller Foundation hatte ihm 38.000 Dollar gegeben – mehr als selbst Margaret Mead bekam. Ein Scheitern würde seine Karriere zerstören.
Als Middle Grove kollabierte, brach Sherifs gesamtes Weltbild zusammen. Also probierte er es 1954 nochmal – mit härteren Methoden, mehr Kontrolle, ohne anfängliche Freundschaften.
Und es funktionierte. Oder schien zu funktionieren.
2013 fand Gina Perry einen der "verlorenen Jungs" von 1953: Doug Griset, mittlerweile ein pensionierter Richter. Er hatte 60 Jahre lang nicht gewusst, dass sein seltsames Sommercamp ein Experiment war.
Seine Reaktion? "Ich bin nicht traumatisiert, aber ich mag keine Seen, Camps, Hütten oder Zelte. Meine Kinder fragten immer: 'Warum willst du nie campen gehen, Dad?' Ich konnte es nie erklären."
Perry brachte ihn zurück nach Middle Grove, zu den Ruinen des Camps. Griset erkannte sofort den alten Steinkamin, wo die Preise ausgestellt wurden. "Ich wollte dieses Messer so sehr", sagte er. Nach 60 Jahren. So tief sitzen diese Erinnerungen.
Was ist die wahre "dunkelste Stunde" des Robbers Cave Experiments? Nicht die Schlägerei zwischen den Jungs – die war inszeniert. Die dunkelste Stunde ist der Moment, als ein Wissenschaftler entschied, dass der Zweck die Mittel heiligt. Als Kinder zu Objekten wurden. Als die Wahrheit einer überzeugenden Geschichte geopfert wurde.
Wie Gina Perry es formuliert: "Das ist das Dilemma der sozialpsychologischen Forschung: dass das menschliche Subjekt zu einem Objekt wird. Im Prozess, Einblick in das menschliche Sozialleben zu gewinnen, verliert der Forscher aus den Augen, was es ist, das uns menschlich macht."
Das Robbers Cave Experiment steht immer noch in den Lehrbüchern. Und vielleicht sollte es das auch – nicht als Beweis einer Theorie, sondern als Warnung. Eine Warnung darüber, was passiert, wenn Wissenschaftler ihre Menschlichkeit verlieren. Wenn Ergebnisse wichtiger werden als Menschen. Wenn eine gut erzählte Lüge zur wissenschaftlichen Wahrheit wird.
Die Lektion? Hinterfragt die Geschichten, die euch erzählt werden. Auch die wissenschaftlichen. Besonders die wissenschaftlichen.