Fünf Buchstaben auf einem Ausweis – „Tutsi“ – konnten 1994 in Ruanda über Leben und Tod entscheiden. Der Völkermord an den Tutsi gilt als einer der brutalsten Genozide des 20. Jahrhunderts. Doch er war nicht nur ein innerstaatlicher Gewaltausbruch, sondern der Funke, der einen ganzen Kontinent in den bis heute blutigsten Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg stürzte: den sogenannten afrikanischen Weltkrieg.
Vor der Kolonialisierung waren Tutsi und Hutu keine starren Ethnien, sondern gesellschaftliche Schichten: Viehzüchter und Bauern, zwischen denen sozialer Aufstieg möglich war. Belgien verwandelte diese flexible Ordnung in ein starres System.
Mit pseudowissenschaftlichen Rassentheorien erklärten Kolonialbeamte die Tutsi zur „höherwertigen Rasse“. 1933 wurde eine Volkszählung eingeführt: Jeder Einwohner erhielt einen Ausweis, in dem „Hutu“ oder „Tutsi“ unumkehrbar festgeschrieben wurde. Eine gefährliche Grenzziehung, die das Fundament für spätere Gewalt legte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs der Druck auf die Kolonialmächte. Als erste afrikanische Staaten unabhängig wurden, kippte Belgien seine Politik: Statt die Tutsi zu stützen, förderte es plötzlich die Hutu-Mehrheit. Gewalt brach 1959 aus, zehntausende Tutsi flohen ins Exil. Unter ihnen: ein Junge namens Paul Kagame, der später eine entscheidende Rolle spielen sollte.
1962 wurde Ruanda unabhängig – unter Hutu-Herrschaft. Tutsi galten fortan als Bürger zweiter Klasse. Exilanten gründeten die Rwandan Patriotic Front (RPF), die ihre Rückkehr plante. Misstrauen und Hass wuchsen.
Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug von Präsident Habyarimana über Kigali abgeschossen. Innerhalb einer Stunde begannen Milizen und Nachbarn, Nachbarn zu töten. Radio-Sender wie RTLM riefen offen zur „Säuberung“ auf. Mordlisten waren vorbereitet, Waffen verteilt.
In nur 100 Tagen starben rund 800.000 Menschen – fast die gesamte Bevölkerung einer europäischen Großstadt.
Die Welt schaute größtenteils zu. Erst die RPF unter Paul Kagame beendete das Massaker, indem sie Kigali eroberte. Doch die Gewalt löste eine Kettenreaktion aus: Millionen Hutu flohen in den Kongo – unter ihnen auch Täter und Organisatoren des Genozids. In den Flüchtlingslagern bauten sie neue Machtstrukturen auf und nutzten internationale Hilfsgelder, um sich neu zu organisieren.
Kagame sah, wie die Mörder seiner Landsleute ungestraft in den Nachbarländern saßen. Gemeinsam mit Uganda unterstützte er einen Rebellenführer im Kongo: Laurent-Désiré Kabila. 1996 stürzten sie Mobutu, den jahrzehntelangen Diktator.
Doch die Allianz zerbrach schnell. Als Kabila seine Unterstützer aus Ruanda und Uganda 1998 aus dem Land warf, entflammte der Zweite Kongokrieg. Mehrere afrikanische Armeen und unzählige Milizen stürzten sich in den Konflikt – ein Krieg um Macht und vor allem um Rohstoffe: Coltan, Gold, Diamanten.
Zwischen 1998 und 2008 starben laut Schätzungen 5,4 Millionen Menschen im Kongo – mehr als in jedem anderen Konflikt seit 1945. Viele starben nicht durch Waffen, sondern durch Hunger, Krankheit und Vertreibung. Heute kämpfen noch immer über 120 Milizen um Minen, Dörfer und Handelsrouten.
Der afrikanische Weltkrieg ist ein Schlüssel, um die Gegenwart zu verstehen:
Und er macht klar: Die Wunden sind bis heute nicht verheilt.